Durch Zufall bin ich auf das Buch "Nebelkinder" von Stefanie Gregg gestoßen. Ich habe es gerade beendet und muss es unbedingt hier vorstellen.
München, 1945. Zusammen mit ihrer Mutter Käthe ist Ana aus Breslau geflohen. Käthe ist traumatisiert, und so ist es an Ana, für ihre Familie zu sorgen. Als sie ihre eigene Familie gründet, scheint der Krieg verwunden, doch ihre Tochter Lilith bleibt ihr seltsam fremd. Viele Jahre später steht Lilith vor einer großen Entscheidung: Ausgerechnet sie, die doch immer unter ihrer distanzierten Mutter gelitten hat, soll den Sohn ihrer besten Freundin bei sich aufnehmen. Da fährt Ana mit ihr nach Breslau und erzählt ihr endlich, was damals wirklich geschehen ist.Eine berührende Familiengeschichte, die über drei Generationen bis in das 21. Jahrhundert reicht.
Das Buch ist in verschiedenen Zeitebenen geschrieben, abwechseln aus den Perspektiven von Ana (Mutter) Lilith (Tochter) und Käthe (der Großmutter). Käthe muss mit Ana im Winter aus Breslau vor der roten Armee flüchten, das Buch beschreibt in Rückblenden das Leben von Käthe, man begleitet Ana und schließlich auch Lilith, die sich von ihrer Mutter Ana nicht geliebt fühlt. Die unverheiratete Lilith wird vor die Herausforderung gestellt, ihr Patenkind bei sich aufzunehmen und sucht den Rat ihrer Mutter. Diese rät ihr (für Lilith völlig unverständlich) das Kind aufzunehmen und fordert Lilith auf, sie nach Breslau zu begleiten, wo sie sich die Schauplätze der Familiengeschichte ansehen und sie ihr (endlich) die komplette Familiengeschichte erzählt.
Ich habe diese Buch in nicht ganz 24 Stunden verschlungen. Das Buch hatte ich mir insbesondere ausgewählt, weil meine Oma aus Breslau stammt, aber nie viel über die Flucht und Vertreibung gesprochen hat. Es reden ja nicht alle Eltern/Großeltern über den Krieg und manchmal würde ich so gerne mehr wissen, aber man stochert wirklich "im Nebel". In einem Buch, das ich vor einiger Zeit las, wurde gesagt, dass die Erlebnisse so schlimm waren, dass man einfach nicht mehr darüber sprechen kann. Und ich glaube, das war bei meiner Oma der Fall.
Diesbezüglich hat mich ein Satz besonders berührt:
Zitat:
... Weil sie die Bruchstücke der vorherigen Generation nicht zusammenfügen konnte, weil die Auslassungen zu groß waren, weil die unerträglichen Schmerzen von Krieg und Flucht nicht mit dem Ende des Krieges aufgehört hatten. Sie wirkten weiter, in der Kriegsgeneration, in den Kriegskindern und auch in den Kriegsenkeln.... Es war auch nicht die Schuld der Elterngeneration, sie hatten zu viel erlebt, auch und gerade die kleinen Kinder, die all die unerträglichen Erlebnisse erleben mussten. Ohne sie überhaupt zu verstehen, die Zusammenhänge zu sehen, ohne eine Chance, sie zu reflektieren,sie waren Objekte des Krieges, Objekte der Zeit, sie hatten danach keine Worte für all dieses Leid sie schlossen es in sich, auch in dem Gefühl, dadurch ihre Kinder von all dem Schrecklichen entfern zu halten...
Zur Erklärung des Buchtitels hier ein Ausschnitt aus dem Buch:
Zitat:
Nebelkinder nennt man in der modernen Psychologie die Generation der Kriegsenkel (also mich und meine Generation). Dieser von Sabine Bode, einer Journalistin und Expertin auf dem Gebiet seelischer Kriegsfolgen geprägte Begriff bezeichnet jene Generation, die eigentltich nichts mehr mit dem Krieg zu tun hat und die dennoch bewusst oder meist unbewusst die Traumata ihrer Großelterngeneration, der Kriegsgeneration sowie ihrer Eltern, den Kriegskindern, übernommen hat.
Ich würde manchmal gerne wissen, warum ich so bin, wie ich bin und wie mich vielleicht das, was meine Großmutter erlebt hat, geprägt hat.
Interessanterweise hat Daniel gestern einen Bericht gehört, der genau das aufgriff: Es ging darin darum, dass Menschen, die jetzt sehr viel Angst vor Corona haben, in vorherigen Generationen irgendwann mal einen Angehörigen durch Seuchen wie die Pest, Cholera oder durch die spanische Grippe verloren haben. Das fand ich in Verbindung mit dem, was ich in diesem Buch gelesen habe, unglaublich interessant!
Das Buch bekommt von mir eine klare Leseempfehlung!