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 Betreff des Beitrags: Jugend Voraus
BeitragVerfasst: 28.06.2014, 12:27 
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gesprächiges Gnu
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Uns geht es noch gut.

Berlin 1932. Die Weltwirtschafskrise hat Deutschland voll erfasst, Arbeitslosigkeit und Stellenabbau allenthalben. In dieser Zeit lebt die Sechsköpfige Familie Felsing in einer schönen großen Fünfzimmerwohnung in Berlin Charlottenburg-Wilmersdorf, nicht unweit des Litzensees. Wolfgang, der älteste ist bereits 20 Jahre alt und Studiert Ingenieurwissenschaften, obwohl in diese nicht interessieren. Seine Liebe gilt der Musik, mit einer solch brotlosen Kunst jedoch, hat er keine berufliche Zukunft, und studiert daher, was gefragt wird, und einen zukünftigen Broterwerb verspricht. Renate ist bereits 15 und geht noch ins Gymnasium, genau wie der dreizehnjährige Peter, der sich mehr für Technikbasteleien als Latein interessiert. Die zehnjährige Brigitta, genannt Gitta, ist das Nesthäkchen der Familie.
Vater Felsing arbeitet auf der Bank, aber die Zeiten sind schwer, das Gehalt schrumpft und wird immer weiter gekürzt, während immer mehr seiner Kollegen „abgebaut“ werden und die verblieben müssen die Arbeit mit übernehmen. Jeden Monat erwartet auch er seine Kündigung, bis sie tatsächlich eintrifft, auch er ist zum April 1932 entlassen. Nachdem alle Bewerbungen nur Absagen kassieren und die Ersparnisse aufgebraucht sind, bleibt Herrn Felsing nur noch die Arbeitslosenunterstützung. Vater Felsing versinkt in Verzweiflung und Depressionen. Die Arbeitslosenhilfe reicht bei weitem nicht, seine Familie zu ernähren. Nun müssen alle mit anpacken und auch die Kinder müssen zum Unterhalt beitragen so gut sie können.


Berlin 1932 klingt in weiten Strecken wie Berlin 2012 und diese Parallelen sind bei der Lektüre des Buches streckenweise sehr ernüchternd bis erschreckend. Wolfgang studiert nicht mehr nach seinen Interessen, sondern nach der Aussicht, einen Job zu bekommen, genau das beklagt man heutzutage auch an den Studenten. Und auch der Spruch „Als ob es nicht genug brotlose Diplomingenieure gab“ (S. 10) kommt einem mehr als bekannt vor: Dr. Arbeitslos. Die Familie rückt durch diesen finanziellen Rückschlag enger zusammen. Sie vermieten zwei Zimmer unter. Eines an den japanischen post-Doc Ma-Wu, der an Wolfgangs Uni studiert und eines an Frau Lerche, eine Redakteurin für Handarbeiten und Mode bei einer Frauenzeitung. Die Untermieter sehen auch, wie es um die Familie steht, und besonders Ma-Wu versucht zu helfen, wo er kann. Er nimmt Klavierunterricht bei Wolfgang oder stellt Frau Felsing zum Tippen seiner wissenschaftlichen Arbeiten ein. Was ein Post-Doc ist, was ein promovierter Akademiker im Ausland so macht, war Else Ury unbekannt, für sie war er eben auch ein Student. Hier lässt die Autorin es an Recherche mangeln.
Da dieses Buch 1932-1933 geschrieben wurde und für die Jungend dieser Zeit konzipiert war, kann man wohl davon ausgehen, dass ein authentisches Bild der Jungend dieser Zeit gezeichnet wird, mit allen seinen Vorurteilen und Sorgen. Else Urys Recherche bezüglich Japan und USA lässt hier ebenfalls deutlich zu wünschen übrig, sie spiegelt eher unreflektiert die damaligen Vorurteile wieder. Japan ist für sie ein Land, in dem es immer warm ist, und Dr. Ma-Wu friert daher in deutschen Wintern, dabei versinkt ein Großteil Japans jedes Jahr metertief im Schnee. Amerikaner werfen nur mit Geld um sich und wollen immer nur wissen, wie viel etwas kostet, sie beurteilen laut Ury und der Ansicht ihrer deutschen Zeitgenossen wohl alles nur nach seinem pekuniären Wert und alle amerikanischen Frauen haben laut Urys Amerikaner Affen als Haustiere.
Was das Buch jedoch interessant macht, neben den Parallelen zur heutigen Zeit, ist das authentische Bild eines Berliner Sommers im Jahre 1932, das hier gezeichnet wird. Während Peter aufs Land nach Hirschberg zur Landarbeit geht, um einen Bauern vier Wochen zur Hand zu gehen und ausgefüttert zu werden und die Eltern mit Gitta zur Oma an die See fahren, bleiben Renate und Wolfgang zurück. Wer Berlin und seine Umgebung kennt, wird somit an den Beschreibungen ihrer sommerlichen Aktivitäten besondere Freude haben. Es geht nach Potsdam, nach Sanssouci und an den Wannsee.
Weitere Besonderheiten sind bewahrtes Brauchtum, in diesem Fall, die lange in Vergessenheit geratenen blauen Frühkartoffeln (S. 113), die erst nach und nach wieder auf den Märkten auftauchen. Außerdem lernen Nichtberliner, was „knorke“ ist.
Was macht das Buch zu etwas ganz besonderen und zu einem Kuriosum? Else Ury war Jüdin, sie erhielt 1933 Schreibverbot, ihre Bücher wurden aus den Bibliotheken entfernt, der Meidinger Verlag, der dieses Buch verlegte wurde ebenfalls geschlossen. Dennoch merkt man all das diesem Buch nicht an. Obwohl die Autorin selber Jüdin war, sind keine Hinweise darauf zu finden. Familie Felsing ist evangelisch. Renate geht zu Konfirmation, man feiert deutsches Weihnachten und das Buch endet mit Hitlers Machtübernahme. Hakenkreuze in einem Jugendbuch einer jüdischen Autorin, die von den Nazis in Auschwitz vergast wurde. Die Sammler und Else Ury Forscher streiten sich schon immer, um das letzte Kapitel dieses Buches, es wäre stilistisch anders und umgearbeitet worden. Man vermutet ein Lektor oder Ury selber hätte es umgeschrieben und angepasst. Wer es auch war, nachträglich geändert wurde das letzte Kapitel, und teilweise wohl auch im Text an einigen Stellen, im letzten Kapitel fällt es nur besonders auf. Bereits S. 98 finden sich Aussagen wie „Der Bauernstand ist der Grundstein unseres deutschen Volkes“. Da fügen sich diese Sprüche noch soweit in den Lesefluss ein. Im letzten Kapitel jedoch tauchen plötzlich Propagandaallgemeinplätze auf, die in ihrer Sachlichkeit nicht zu Urys blumigem Stil passen wollen. Da liest man Dinge wie „Plötzlich war sie da, die allgemeine nationale Erhebung Deutschlands. Die aufbauwilligen Deutschen schlossen sich unter Führung des Reichskanzlers Hitler zusammen. Mithelfen wollten sie alle, Deutschland wieder große zu machen, es aus seiner wirtschaftlichen Not zu befreien.“ (S. 199)
Somit ist klar, das Buch ging erst in Druck nach dem 1. Mai 1933 und muss um diese Zeit an die neuen politischen Gegebenheiten angepasst worden sein, sonst hätte man Hitlers Feier zum 1. Mai 1933 in Berlin nicht so detailgetreu einfügen können.
Warum ist das Buch so unglaublich teuer? Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen wurde, wie oben erwähnt, Ury 1933 bereits Schreibverbot erteilt und der Meidinger Verlag aufgelöst. Viele Exemplare können nicht in den Verkauf gelangt sein, die Exemplare in den Bibliotheken wurden vernichtet. Nach dem 2. Weltkrieg fiel das Buch durch sein letztes Kapitel unter NS Literatur, man hatte vergessen oder hatte nie gewusst, dass die Autorin Jüdin war. Die wenigen Exemplare, die überlebt haben, sind somit entsprechend, gesucht, selten und somit teuer.

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