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 Betreff des Beitrags: Flüchtlingskinder
BeitragVerfasst: 28.06.2014, 12:28 
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gesprächiges Gnu
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Juli/August 1914. In der Nähe von Soldau (heute Działdowo) in Ostpreußen, nahe der russischen Grenze, leben die Geschwister Peter und Hanni Kaschuba. Peter, eigentlich ein Mädchen von acht Jahren mit Namen Annedore, wird aber von allen Peter gerufen, weil sie ein Junge werden sollte und sich auch wie einer verhält. Ihr siebenjähriger kleiner Bruder Hans, genannt Hanni, ist hingegen eher von verträumter, schüchterner Natur. Das friedliche Kinderleben der beiden findet mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges ein abruptes Ende. Die Russen überfallen des Nachts die Stadt und die Bewohner müssen flüchten. Da der Vater zu diesem Zeitpunkt jedoch Besorgungen machte, will die Mutter Katrin auf ihn warten und gibt Peter und Hanni ihrem Großvetter Jochen und ihrer Base Stine mit. Auf dem nächsten Eisenbahnknotenpunkt, an dem die ostpreußischen Flüchtlinge umsteigen müssen, herrscht jedoch derartiges Gedränge, dass die Kinder von Stine und Jochen getrennt werden. Stine und Jochen fahren weiter nach Königsberg, die Kinder geraten in einen Zug nach Elbing (heute Elbląg). Tagelang warten Peter und Hanni auf dem Bahnhof auf ihre Eltern, die nachkommen sollten, bis sie vom Roten Kreuz in einen Kriegskinderhort und von dort in zwei getrennte Pflegefamilien verbracht werden. Durch eine Verwechslung (Man hielt Peter für den Jungen und Hanni für ein Mädchen) kommt Peter zum über 70 Jahre alten Geschwisterpaar Professor Adalbert Kruse und Fräulein Georgine und wirbelt deren ruhiges Leben gehörig durcheinander. Hanni jedoch landet auf dem Gutshof Tiemendorf, unter fünf Rabauken, die dem schüchternen kleinen Kerlchen das Leben sehr schwer machen.


Wie erklärt man einem Kind den Krieg? Vor diesem Problem standen die Eltern und Autoren auch im Ersten Weltkrieg (1914 bis 1918). Dieses Buch erschien 1917, also noch während des Krieges und richtet sich an Kinder im Alter von 7 - 11 Jahren. Das Buch erreichte letztendlich eine Auflage von ca. 73. Tausend Exemplaren und wurde auch noch in den späten 20er Jahren immer wieder neu aufgelegt. Es erfreute sich unter Zeitgenossen also definitiv großer Beliebtheit.
Else Ury erzählt die Geschichte zweier ostpreußischer Flüchtlingskinder und ermahnt dabei im Text die kleinen Leser lieb und nett zu den Flüchtlingskindern zu sein, die Heimat und oft auch Eltern verloren haben. Daneben wimmelt es in diesem natürlich patriotischen Buch von mutmachenden Durchhalteparolen wie „Jungdeutschland muß daheim Vaterlandspflichten erfüllen.“ (S. 106) Hindenburg der Retter der Ostmark. Überhaupt, alle finden Krieg noch ganz toll „Bald würde er ins Feld rücken. Er konnte es wie allen anderen kaum erwarten, herauszukommen.“ (S. 103). Die Kriegsbegeisterung zu Beginn des ersten Weltkrieges ist so belegt. Selbst Gymnasiasten wollen unbedingt Soldat werden. So gesehen ist diese Darstellung historisch Korrekt, anders als der Überfall auf Soldau. .Am 6. August 1914 wurde tatsächlich bei SOldau gekämoft, daei kam es aber „nur“ zu drei Toten und 18 Verwundeten und Grenzschutz vernichtete die russische Brigade und drängte sie hinter die Grenze zurück. Die Mutter der Kinder wäre zu diesem Zeitpunkt niemals verschleppt worden, wie es in diesem Buch passiert, Soldau wurde erst deutlich später in die Kriegshandlungen verwickelt. Dass das Buch tatsächlich 1914 spielt belegt S. 75 die Erwähnung des Sieges über Lüttich.
Das Buch wimmelt von den damaligen Vorurteilen und Meinungen der Deutschen über die Russen. „Russen haben lange Finger“ (S. 20). Es werden die „Schreckenstaten der Russen“ (S. 34) erwähnt und die Mutter der Kinder berichtet, dass sie nach Sibirien verschleppt wurde und von schmutzigen russischen Kerkern, schrecklichem Klime, Hunger und Krankheit (S. 204) (viel mehr kann man einem Elfjährigen Kind wohl auch kaum zumuten).
Da es sich bei diesem Buch um ein Kinderbuch handelt, kann man nicht erwarten, dass die Autorin grausige Details anführt. Es ist schon erstaunlich, dass sie die schweren Verletzungen der Soldaten nicht unter den Teppich kehrt. Annedore besucht mit ihrer Klasse in Danzig ein Lazarett. Da wird durchaus erwähnt, wie schlecht es den Verwundeten geht, dass sie auch Gliedmaßen verlieren (und aus Langeweile im Lazarett Stricken lernen). Die Eltern der Kinder verlieren alles, verarmen und verelenden.
Daneben jedoch, ist das Buch ein „normales“ Kinderbuch, mit den üblichen Kinderstreichen. Heutzutage würde man bei Annedore mit Sicherheit ADHS diagnostizieren. Die Streiche, die sie ausheckt sind zum Teil Standardrepertoire, angefangen mit der Verwechslung, bei der ein altes Geschwisterpaar statt eines Jungen ein quirliges Mädchen bekommt (Anne of Green Gables) über den Streich, wo Annedore ihre ganze Klasse zum Tee einlädt (Puckis erstes Schuljahr). Dennoch sind einige, innovative neue Streiche dabei.
Hannis heroisches Abenteuer wirkt dabei arg konstruiert, damit er auch mal ein Held ist und man so ein hübsches Happy End konstruieren kann, das aus heutiger Sicht keines ist, denn es wird in den 1940er Jahren ein schnelles, tragisches Ende finden.

Fazit: Stark entschärfte Darstellung der ersten Tage des 1. Weltkrieges durch Kinderaugen, die teilweise einfach nicht verstehen, was passiert. Eher ein Buch der Durchhalteparolen und der Ermahnung nett zu den Flüchtlingskindern zu sein, und vielleicht auch eines, ihnen Hoffnung zu geben, dass doch noch alles gut wird und die Eltern vielleicht doch noch leben. Teilweise hat das Buch deutliche Längen, wirkt konstruiert und ist historisch so nicht immer korrekt (Ury ließ es des Öfteren an solider Recherche Mangeln).

3 Sterne


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