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 Betreff des Beitrags: Das Rosenhäusel
BeitragVerfasst: 28.06.2014, 13:30 
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gesprächiges Gnu
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Registriert: 19.02.2007, 20:36
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Vom Ziegenstall auf die Opernbühne
Die dreizehnjährige Bärbel lebt in ärmlichen Verhältnissen mit Eltern und drei kleineren Geschwistern (Karl 11 Jahre, Friedel 8 Jahre, Fritz 3 Jahre) in einem kleinen, rosenumrankten Haus in Wolfshau bei Krummhübel (heute Karpacz) im Riesengebirge. Das Haus ist nur gepachtet, der Vater ein Alleskönner und Tagelöhner, der die Familie mehr schlecht als recht über die Runden bringt. Die Familie träumt nur von 2 Dingen, einem Pferd, damit der Vater den Hörnerschlitten nicht mehr selber ziehen muss, und eines Tages das Rosenhäusel zu kaufen. Bärbel ist der Exot in der Familie. Sie liebt es zu lesen und zu lernen, was ihre Mutter, die jeden Pfennig umdrehen muss, als Zeitverschwendung ansieht. Der Dorfschullehrer Opitz und Vater von Bärbels bestem Freund Hermann (sein großer Traum ist es, Arzt zu werden) erkennt die Begabung des Mädchens, vor allem für die Musik und den Gesang. Er möchte, dass Bärbel das Gymnasium besucht und danach Musiklehrerin wird, um so ihre Familie mit zu ernähren. Die Mutter ist dagegen, Bärbel soll sobald sie eingesegnet ist, Zimmermädchen werden.
Den bald eng befreundeten Feriengästen, der Familie König aus Breslau, gelingt es mit klugen finanziellen Argumenten (Wer Abitur hat verdient mehr Geld in kürzerer Zeit), den Widerstand der Mutter zu brechen. Bärbel darf aufs Gymnasium, die Zukunft liegt vor ihr, bis ihr Vater umkommt und sie als Kellnerin die Familie unterstützen muss und alle Träume von einer guten Ausbildung für immer vergeblich erscheinen.

Die Geschichte spielt irgendwann in den 20er Jahren (Hermann arbeitet als Student als Pianist im Kino in Breslau, der Tonfilm kam gegen 1927 auf und löste den Stummfilm 1936 endgültig ab) in Riesengebirge bei Krümmhübel dem heutigen Karpacz. Else Ury besaß in Krummhübel ihre Villa Nesthäkchen, sie kannte die Gegend und schrieb über Dinge die sie wohl so aus erster Hand in irgendeiner Form erlebt haben musste. Zwei Drittel des Buches sind sehr fortschrittlich. Ury beschreibt den Kampf der armen Bergbauern ums Überleben, das durch die Natur, Überflutungen und Missernten noch erschwert wird. Sie beschreibt, wie ein begabtes Mädchen eine Chance bekommen soll, aus diesem Elend zu entkommen, und wie sich die Mutter dagegen wehrt. Das Kind soll Geld verdienen, Lernen ist Zeitverschwendung, wer lernt ist für normale, harte Arbeit nicht mehr zu gebrauchen. Das Kind soll nicht über seine gesellschaftlichen Schranken emporsteigen, es könnte irgendwann auf seine Eltern herabblicken. Diese Argumente kennt man aus vielen Bücher der damaligen Zeit, das muss wohl ein Hauptargument vieler Eltern gewesen sein, auch Huckleberry Finns Vater in Mark Twains berühmtem Roman ist sauer, dass Huck lesen und schreiben kann und er selber nicht. Dennoch spiegelt das Buch eine Zuversicht des Tüchtigen wieder, die Hoffnung, dass es jeder schaffen kann, der die Begabung hat, unabhängig ob die Eltern reich oder arm sind „Heute ist es gottlob so weiß, daß man die Menschen nicht mehr nach ihren Kleidern, sondern nach ihren Leistungen einschätzt (S. 62)“. Vielleicht war Ury da ein wenig naiv, denn noch heute, 80 Jahre später, entscheidet die Herkunft der Eltern in Deutschland immer noch, was aus einem Kind wird. Das Schulsystem ist auf dem Stand der Weimarer Republik mit all ihren gesellschaftlichen Vorurteilen verblieben, obwohl man bereits seit 1930 daran arbeitet, diese zu überwinden. Bärbel wird von den reichen Schulkameradinnen, allen voran dem reichen Töchterchen des Maurers ausgelacht und ausgegrenzt, und zu deren großer Befriedigung auch vom Schicksal zunächst wieder auf die Stelle gerückt, die ihr der Meinung der begüterten Leute zusteht: Kellnerin in einer Baude.
Natürlich ist diese Geschichte eine typische Else Ury Ezählung und natürlich kommt nach dem Unglück das große Glück. Else Ury Bücher enden immer gut. Bärbel wird entdeckt, wird Opernsängerin, macht Karriere. Leider ist es auch typisch Ury, dass die Geschichte da nicht endet, denn keine Frau kann glücklich sein mit einem guten Job und ohne Mann und Kinder. So enden Ury Heldinnen doch letztendlich meist, nach beruflichen Erfolgen glücklich verheiratet an der Seite eines wohlhabenden Mannes mit einem oder mehreren Kindern im Arm. Das mag man kritisieren und kitschig finden, das mag man unemanzipiert halten, sieht man sich die heutige Realität der deutschen Frau an, sieht es, zumindest im ländlichen Gebiet, tatsächlich immer noch so aus. Die erfolgreiche Geschäftsfrau bleibt nach dem ersten Kind daheim und kümmert sich um die Erziehung der Kinder. Nicht einmal 80 Jahre später hat sich daran wirklich etwas geändert, auch wenn die wirtschaftliche Lage heute viele Frauen zum Umdenken zwingt, sind Mütter, die Kinder haben und Vollzeit arbeiten Rabenmütter, das ist typisch Deutsch. So gesehen ist diese Geschichte sehr modern und zeitlos. Bärbel hat nicht wirklich die Wahl, nach einer Krankheit kann sie nicht mehr in ihrem Beruf arbeiten. Sie findet ein neues Wirkungsfeld an der Seite ihres Mannes und so auch ihr Glück, und sein wir ehrlich, vor die Wahl gestellt ob die moderne Frau Mann und Kind und Sicherheit oder einen stressigen Job haben will, wählen die meisten Frauen genau wie Bärbel 1930, auch heute noch.
Die Geschichte ist logisch aufgebaut. Bärbels Weg zum Glück ist zwar durch Zufälle gepflastert, diese sind aber von langer Hand vorbereitet und so gesehen auch logisch absehbar, wie die ganze Geschichte. Ein schönes Portrait der armen schlesischen Bauern am Fuße der Schneekoppe und wie sich die Gegend langsam durch Tourismus entwickelte. Insgesamt liest sich das Buch wie ein Heimatfilm der 50er Jahre.
Interessant ist die Geschichte vor allem jedoch, weil sie eine verschwundene Welt beschreibt, Gebiete die heute polnisch sind, wie Krummhübel und Breslau.
Mit einer Auflage von nur 8. - 10. Tausend Stück, ist das Buch selten und gesucht.

5 Sterne


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Bau, Bild, Bücher, Deutschland, Erde, Familie, Frauen, Geld

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