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 Betreff des Beitrags: Baumeisters Rangen
BeitragVerfasst: 28.06.2014, 13:27 
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gesprächiges Gnu
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Registriert: 19.02.2007, 20:36
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Preußen ca. 1910. In einer kleinen Stadt in Schlesien lebt die elfjährige Liselotte Günther mit ihren Geschwistern. Als einziges Mädchen unter 4 Brüdern hat sie es wahrlich nicht einfach. Da ist der ältere Brüder Norbert, der Tertianer, der sich aus allem heraushält und sich um nichts kümmert und die nervigen kleineren Brüder Heinz (geht ins erste Schuljahr und ist nicht sonderlich helle), der vierjährige Edchen (genannt Neinerich, weil er immer und zu allem NEIN sagt) und der dreijährige Kurt (genannt Weinerich, weil er immer gleich losheult). Wäre Lilo ein richtiges Mädchen, lieb und nett, dann hätte sie es vielleicht mit ihren Brüdern einfacher, als Papas fünfter Junge jedoch ist sie der größte Zankteufel der Familie, und immer für jeden Unfug und einen neuen Streich zu haben.

Baumeisters Rangen ist ein klassisches Kinderbuch über ein Jahr im Leben des eines kleinen Wildfang namens Liselotte, wie man sie Anfang des 20. Jahrhunderts gerne las und immer noch gerne liest. Das Buch erinnert ein wenig an Astrid Lindgrens Madita, denn auch Lilo klettert gerne mal auf Baugerüste (Madita auf Dachfirste) und stellt durch Unbedachtheit allerlei an. Zum großen Teil ist das Buch zeitlos, in einer idyllischen kleinstädtischen Kinderwelt angesiedelt mit den auch heute noch gültigen Kinderproblemen, wie Streit mit der besten Freundin, Schulnoten, Schulstreiche, Ärger mit den Geschwistern. Darum, dass Mädchen von Kränzchen oder Aktionen ausgeschlossen werden, weil der Vater nur Angestellter ist und nicht Beamter, und wie Liselotte diese gesellschaftlichen Schranken überdenken und überwinden lernt und lernt, Menschen nicht nur nach ihrer Herkunft und dem Beruf des Vatters zu beurteilen. Nur an sehr wenigen Stellen merkt man ihm sein Alter überhaupt an, hauptsächlich, wenn noch mit Petroleumlampen geleuchtet wird, wenn der Kaiser erwähnt wird oder die Kinder unbedingt den Prinzen Heinrich sehen wollen.
Es gibt aber auch Stellen, bei denen man sich heute fragt, ob Liselotte nicht wirklich ungerecht behandelt wird, nur weil sie ein Mädchen ist. Als die kleinen Brüder Liselottes Lesebuch bemalen und zerreißen, bekommt sie die Schuld, weil sie es hat herumliegen lassen, denn die Kleinen wüssten es ja nicht besser. Im Urlaub müssen Liselotte und ihre Freundin die Sachen des Vaters und Bruders auspacken und verräumen, nur weil sie Mädchen sind. Das erscheint der erwachsenen Leserin heute so ungerecht wie der kleinen Liselotte damals.
Wenn man dieses Buch als Erwachsener liest, kommt einem vieles sehr modern vor, so schicken die Eltern die beiden ältesten Kinder Norbert und Liselotte in den Ferien „als Belohnung“ zu den Großeltern nach Berlin, im Klartext, sie werden bei den Großeltern über die Ferien geparkt, damit die Eltern mal ein wenig mehr Ruhe haben. Die Eltern erziehen ihre Kinder ohne Schläge, jedoch Liselotte teilt ihren Brüdern so einige gepfefferte Ohrfeigen und Knuffe aus, und erntet dafür regelmäßig von der Mutter eine Rüge. Erstaunt liest man, dass die Elfjährige ihre drei und vierjährigen Brüder aufs Auge gedrückt bekommt und sie auf die Kirmes mitnehmen muss, würde das heutzutage jemand einem Elfjährigen Kind zutrauen? Hat man Kindern damals mehr vertraut, zugetraut und auch zugemutet?
Andererseits wird das Thema Schwangerschaft aus heutiger Sicht fragwürdig behandelt. Bereits zu Anfang des Buches, als darauf hingewiesen wird, dass jedes Kind in einer anderen preußischen Provinz nach der Versetzung des Vaters geboren wurde und als nach einer erneuten Versetzung Reime über den Klapperstorch zitiert werden, ist dem heutigen Leser klar: Liselotte bekommt noch ein Geschwister. Und was hat die Mutter. Mal hat sie Kopfschmerzen und dann ist sie plötzlich eines Tages krank und dann ist da ein Kind angekommen. Haben die Kinder nicht gemerkt, dass die Mutter einen riesigen Bauch bekam? Wurde darüber gar nicht geredet? Das mutet doch ein wenig seltsam an, aus heutiger Sicht.
Was das Buch aber für heutige Leser interessant macht ist, dass es eine Welt und ihre Brauchtümer beschreibt, die es so nicht mehr gibt. Liselotte lebt in Schlesien, in heute polnischen gebieten. Sie macht Urlaub im heute polnischen (schlesischen) Teil des Riesengebirges, in dem auch Else Ury lebte. In Schlesien gab es zu Sommeranfang einen dem Halloween ähnlichen Brauch, bei dem die Kinder singend von Haus zu Haus zogen und Süßigkeiten namens Mehlweißchen (eine Art längliche Pfefferkuchen?) und Schaumbrezeln sammelten. Und auch die Erinnerung an Spezialitäten wie Königsberger Marzipan wird in diesen Büchern bewahrt.
Damals waren Kinder anscheinend ganz scharf darauf endlich gesiezt zu werden und in den Schulen gab es Linkshandkurse, in denen eine Schulstunde lang mit Links geschrieben werden musste.
Eine Stelle lässt besonders heutige Leser betroffen schlucken. Das Buch erschien 1910. Norbert ist ca. 16 Jahre alt und als Prinz Heinrich zu ihm und seinen Brüdern sagt „Du wirst mal ein tüchtiger Soldat werden, mein Junge.“ Sieht man ihn schon tot auf den Schlachtfeldern des ersten Weltkrieges liegen.

Das Buch gab es in drei verschiedenen Ausgaben.
1910 – Mitte der 1920er Jahre mit einem Frontspitz von Max Wulff und Zeichnungen von Elsie Grace.
Mitte der 20er Jahre mit 5 farbigen Bildern von Prof. R. Sedlacek und den Zeichnungen von Elsie Grace
Ab 1932 mit 4 farbigen Bildern und Zeichnungen von Ilse Nordhaus (Selten! Nur 4000 Exemplare. 92.-96. Tausend)

http://gutenberg.spiegel.de/buch/7643/1
http://www.amazon.de/Else-Ury-Baumeiste ... ers+rangen


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Bau, Berlin, Bild, Bücher, Erde, Familie, Haus, Hund

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